Wandern wirkt – Effekte auf die seelische Gesundheit

Nach meiner ersten Weitwanderung bemerkte ich an mir nachhaltige Veränderungen. Sowohl auf körperlicher als auch auf psychischer Ebene. Auch an meinem Arbeitsplatz bekomme ich von Patienten immer wieder Rückmeldungen, dass sich Spaziergänge und Wanderungen in der Natur positiv auf ihre Befindlichkeit auswirken. Das weckte meine Neugier. Ich recherchierte, welche Effekte das Wandern auf die seelische Gesundheit hat.

Die psychische Gesundheit wird vom Kontext beeinflusst. Aber sie hängt auch stark von individuellen Faktoren ab. Meine Recherchen haben ergeben, dass regelmäßiges Wandern persönliche gesundheitsfördernde Faktoren stärkt. Auch Symptome einer psychischen Erkrankung können durch Wandern gelindert werden. Ich bin auf viele interessante Artikel und Studien gestoßen. Einige davon habe ich ausgewählt und zusammengefasst:

Auswirkungen von Weitwandern – eine Introspektion

Im Jahr 2017 machte ich meine erste Weitwanderung. Schon nach wenigen Tagen setzten erste Effekte ein und viele davon sind mir bis heute erhalten geblieben.

Körperliche Veränderungen

Mein Körper und mein Körpergefühl verändern sich. Ich fühlte mich kräftig und fit. Mein Gang wurde aufrechter und kraftvoller. Ich konnte die Rückmeldungen von meinem Körper zunehmend besser einschätzen und somit Tempo und Wegstrecke immer besser dosieren.

Unglaublich war die Erfahrung wie rasch sich mein Körper regeneriert. Oft war ich abends sehr müde, kraftlos und überzeugt, am nächsten Tag eine Pause zu machen. Nach einer Nacht, geprägt von tiefen Schlaf , fühlte ich mich dann morgens fit und energiegeladen, konnte es kaum erwarten weiter zu gehen.

Veränderungen auf psychischer Ebene

Ich bemerkte auch Veränderungen auf seelischer Ebene. Die Stimmung verbesserte sich und mein Selbstbewusstsein wuchs. Ich traute mir immer mehr zu. Hatte das Gefühl, meine Grenzen sowohl auf körperlicher als auch auf psychischer Ebene viel besser einschätzen zu können.

Mein Zeitgefühl veränderte sich. Die Zeit ist immer langsamer gelaufen. Erfreulicherweise auch noch einige Zeit nach meiner Rückkehr in den Alltag.

Meine Wahrnehmung wurde intensiver. Die erlebte Anstrengung und andere Sinneseindrücke lockten tiefe Gefühle hervor. Oft war ich tief berührt von der Schönheit der Natur, hoch erfreut über kleine Entdeckungen oder fühlte mich demütig, klein bei dem Blick in die Weite.

Unangenehme Gefühle wie zum Beispiel aufkommenden Ärger konnte ich nicht nach außen projizieren. Ich lernte unangenehme Gefühle wahrzunehmen, willkommen zu heißen und dann auch wieder ziehen zu lassen.

Der Geist klärte sich. Ich erlebte viel inneren Dialog und neue, spannende Ideen tauchten auf. Zum Beispiel auch der Einfall eine Homepage zu gestalten.

Ein intensives Gefühl von Dankbarkeit breitete sich aus. Dankbarkeit meinen Körper gegenüber. Dankbarkeit diese wunderbare Zeit erleben zu dürfen.

Nicht zuletzt möchte ich die Gelassenheit und Entspanntheit erwähnen welche mehr und mehr Raum einnahmen. Vermutlich entwickelten sich diese beiden Qualitäten durch das ständige Erleben, das nichts beständig und von Dauer ist. Beim Wandern habe ich bewusst wahrgenommen, wie sich in kurzer Zeit die Landschaft, das Wetter, mein Erleben oder meine Gedanken verändern . Zum Beispiel das Spüren der massiver Anstrengung bei einem nicht endend wollenden Anstieg und eine halbe Stunde später wandere ich energiegeladen über sanfte Almen und empfindet Glücksgefühl pur.

Unangenehme Nachwirkungen

Viele der Wirkungen blieben mir auch nach meiner Rückkehr in den Alltag, bis heute, erhalten. Ich möchte noch über einen unangenehmen Nebeneffekt erzählen. Dieser setzte einige Wochen nach der Weitwanderung ein. Obwohl ich mich insgesamt glücklich und entspannt fühlte tauchte von Zeit zu Zeit ein Gefühl der Leere auf. Das Gefühl erinnerte mich an die Zeit als ich vor vielen Jahren mit dem Rauchen aufhörte. Die immer wieder aufkommende Leere und eine tiefe Sehnsucht nach Freiheit begleiteten mich einige Zeit.

Ich integrierte mehr Bewegung in meinen Alltag in der Hoffnung den unangenehmen Gefühlen entgegen zu wirken. Das vermehrte Gehen bereitete mir Freude und wirkte sich positiv auf mein Körpergefühl aus. Trotzdem konnte der veränderte Lebensstil meine Leere und meine tiefe Sehnsucht nach Freiheit nicht ganz stillen.

„Es fühlte sich an, wie wenn man die große Liebe gefunden und eine intensive Zeit gemeinsam verbracht hat. Und dann eine Fernbeziehung über Videotelefonie führen muss.“

Ob es nun der Zeitfaktor war, mein veränderter Lebensstil oder dass ich meine individuelle Freiheit in den Strukturen des Alltags erkannte, das Leeregefühl ist zunehmend in den Hintergrund getreten. Ich habe für mich die Theorie entwickelt, dass dieses Phänomen eine Art Entzugssymptom war. Die lange Dauer des Wanderns wirkte sicherlich stark auf meinen Endorphin-, Dopamin- und Serotoninhaushalt ein.

Zwei Fragen sind deshalb für mich offen geblieben:

  • Inwieweit macht wandern süchtig?
  • Hätte das Weitwandern langfristig nachteilige Effekte für mich haben können, wenn ich auf die unangenehmen Nachwirkungen destruktiv reagiert hätte?

Wie auch immer. Insgesamt überwiegen für mich die positiven Effekte. Ich fühle mich nach wie vor deutlich gestärkt durch das Wandern. Sowohl auf körperlich als auch auf psychischer Ebene.

Therapeutische Wirkung von Wandern

Sehr spannend finde ich den Beitrag von Prim. Heinrich Haller im Radio Vorarlberg . In der Radiosendung stellt er einen Vergleich an zwischen den Wirkungen von Psychotherapie und Wandern. Welche Wirkungen er dem Wandern zuschreibt habe ich nachfolgend zusammengefasst.

Wirkungen auf das Seelenwohl

Dem Wandern spricht Prim. Haller meditative Elemente zu. Es wird die Achtsamkeit, also die Konzentration auf das Hier und Jetzt, gefördert. Unter anderem deshalb, weil jeder einzelne Schritt Aufmerksamkeit bekommt, damit man zum Beispiel nicht stolpert.

Weiters sieht er ein Emotionstraining darin. Kränkungs- aber auch Stärkungsmomente werden intensiv wahrgenommen. Autonomie wird erlebt, indem das Tempo selbst bestimmt wird, die Leistung gesehen und die eigene Kraft gespürt wird. Ein innerer Dialog wird angeregt. Viele berichten von neuen, kreativen, ungewohnten Ideen und Perspektiven. Unangenehme, quälende Gedanken und Ängste treten häufig in den Hintergrund. Das Selbstbild und das Selbstbewusstsein können sich zum Positiven hin verändern, da die eigene Kraft erlebt wird. Die Persönlichkeit wird gestärkt durch Durchhaltevermögen, Disziplin und (Selbst)Empathie.

Wandern führt auch zu einer verbesserten Körperwahrnehmung. Der eigene Körper wird wieder intensiv gespürt und man wird „zäher“. Eventuell kann zentraler, seelischer Schmerz so auf eine gesunde Weise in die Peripherie verlagert werden.

Insgesamt sieht er als einen Haupteffekt die Entwicklung einer höheren Gelassenheit. Sehr sprechend finde ich hier sein genanntes Bild „Kalter Vollmond über dem tobenden Meer“. Er meint damit den weiten Blick auf sich selbst, die Seele, das Land, das Leben. Wahrnehmen was ist, aber nicht unkontrolliert mitreißen lassen.

Veränderungen auf biologischer Ebene

Er geht auch auf die biologischen Veränderungen ein. Wandern hat Einfluss auf den Stoffwechsel, das zentrale Nervensystem und Hirnabläufe. Vor allem Regionen im Gehirn in denen das Belohnungssystem sitzt werden aktiviert. Das führt zu einem Dopamin- und Serotoninanstieg.

Schon nach 35 Minuten Wandern konnten ähnliche Effekte wie bei der Hypnose festgestellt werden. Die Menschen kommen in einen entspannten, gelassenen Zustand. Vermehrtes Noradrenalin dürft verantwortlich sein für mehr geistige Klarheit bis hin zu meditativer Versenkung. Nach mehreren Stunden Aktivität dürften die Gamma-Wellen zunehmen, was zum Beispiel auch mit den „Segensgefühlen“ von Meditierenden in Verbindung gebracht werden.

Studie „Übern Berg“ vom Uniklinikum Salzburg

Interessante Erkenntnisse brachte die Studie „Physical exercise through mountain hiking in high-risk suicide patients.“ vom Universitätsklinikum Salzburg. Die Idee war, Patienten durch die körperliche Aktivität beim Bergwandern und das Erlebnis – übern Berg zu gehen – für den Alltag seelisch und körperlich zu stärken. Diese Erfolge sollen den Patienten Mut und Hoffnung für die Bewältigung des Alltags geben.

Studiengruppe und Ablauf

Die Studienteilnehmer wurden in 2 Gruppen geteilt. Die Wandergruppe wanderte 9 Wochen lang 3x pro Woche. Die Kontrollgruppe wanderte nicht. Nach 9 Wochen wurde gewechselt. Die Wanderungen starteten mit Mobilisationsübungen und endeten mit Dehnungsübungen. Die Teilnehmer waren mit Pulsuhren ausgestattet um eine Überforderung zu vermeiden.

Ergebnisse der Studie

Signifikant war die Reduktion der Hoffnungslosigkeit, der Suizidalität und der Depressivität. Positive Veränderungen konnten im Bereich der Freude, des Selbstwertes und des Schlafes erhoben werden. Ängstlichkeit hat bei den Patienten abgenommen. Es wurde auch die Ausdauerleistung kontrolliert – diese stieg deutlich an.

Anfangs ist es zu Motivationsproblemen gekommen, jedoch wechselte diese rasch zu einer Vorfreude auf das Wandern. Dieser Umstand dürfte einige Patienten überrascht haben, da sie eigentlich im Vorfeld kein Interesse am Wandern hatten.

Pilgern für die Seele – eine Wandergruppe des St. Marien Hospital

Abschließend möchte ich noch die Wandergruppe des St. Marien Hospital in Herne vorstellen. Jeden September wandern Menschen mit psychischen Erkrankungen zwei Wochen lang ein Stück weiter auf dem Jakobsweg Richtung Santiago.

Während des restlichen Jahres wird dafür trainiert. Auch bei dieser Wandergruppe konnten positive Effekte auf die psychische Gesundheit festgestellt werden. Die Depressivität hat abgenommen. Die Zukunftsorientierung, die Konzentrations- und Merkfähigkeit sowie die körperliche Fitness haben zugenommen.

Weitere Studien zur Wirkung von Wandern auf unsere Gesundheit

Mein Fazit

Regelmäßiges Wandern wirkt auf vielen Ebenen – nicht nur bei mir, sondern auch bei vielen anderen. Bewegung wird schon jetzt in vielen Kliniken und therapeutischen Einrichtungen als Therapie angeboten. Explizit „Wandern“ als therapeutische Bewegungsform ist noch nicht so häufig anzutreffen.

Ich würde mir wünschen, dass dem positiven Effekt auf die psychische Gesundheit noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Vielleicht würden so zunehmend Wanderprojekte entstehen, die Menschen unterstützen, regelmäßiges Wandern in ihren Alltag zu integrieren.

Insgesamt kann ich mich der Aussage von Hr. Markus Fischl im Bergwelten Magazin nur anschließen: “ Wandern wäre unbezahlbar, wenn man es als Medikament verkaufen würde.“


Hast du auch Erfahrungen gemacht, wie sich Wandern auf die psychische Gesundheit auswirkt? Oder bist du dabei ein Wanderprojekt für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu entwickeln? Kennst du Studien, die sich mit dem „Absetzeffekt von Wandern“ beschäftigen? Mich interessieren diese Themen sehr und ich würde mich freuen, wenn du mir darüber erzählst!


Lust auf längere Wanderungen bekommen? Du weißt aber nicht so genau wo und wie du starten sollst? In meinem Blog findest du Ideen für interessante Mehrtageswanderungen und Weitwanderungen sowie Informationen welche für die Vorbereitung wichtig sind.